Tja, eigentlich wollte ich schon lange meine nächste Audio-Kritik über das 2. Halbfinale des Song Contests produzieren, aber es hat sich einfach kein passendes Zeitfenster bei mir gefunden.
Und da ja der ganze Trubel schon heute in einer Woche losgeht *kreisch* und ich vorher auf jeden Fall meinen semiprofessionellen Senf dazu abgeben muss, kommt mein Statement diesmal in geschriebener Form daher.
Soviel vorneweg zum 2. Halbfinale: In der Summe ist es definitiv das härtere der beiden Halbfinals, weshalb hier die Tagesform bzw. die Live-Qualität umso mehr über den Einzug oder Nichteinzug ins Finale entscheiden wird.
1. LITAUEN - InCulto "Eastern European Funk"Da hoffe ich, dass die Tagesform grandios sein wird. Dann dürfte für die freche Funk-Nummer nicht nur der Finaleinzug obligatorisch sein, sondern ich würde sogar soweit gehen und sagen, dass sie im Finale für eine kleine Überraschung gut sein könnte, und das im positiven Sinne. Als Litauen vor vier Jahren mit ihrer plumpen Provokation „We are the winners“ in die gleiche musikalische Kerbe schlug, war der damals erreichte sechste Platz eine Frechheit. Bei InCulto könnte ich mit dieser Platzierung ohne Probleme leben. Es ist auf jeden Fall in Sachen Stimmungsnummer mein persönlicher Favorit in diesem Jahr.
2. ARMENIEN - Eva Rivas "Apricot Stone"
Eine sichere Bank fürs Finale. Eva müsste sich schon sehr deppert anstellen oder spontan ihre Stimme verlieren, um das zu verhindern. Okay, sie singt letzten Endes über Aprikosenkerne, aber ihre Schmalspurethno-Pop-Komposition ist rund, die Optik stimmt und die politische Note hinter der Aprikosenmetapher genau das Richtige, um vor allem in Osteuropa die Big Points abzugrasen. Deshalb einfach nur Haken drunter und weiter zum nächsten Lied.
3. ISRAEL - Harel Skaat "Milim"
Hiermit lässt sich spätestens beweisen, dass in diesem Jahr eindeutig die Männer den besseren Schmalzfaktor haben. Genauso wie Polen und Belgien im ersten Halbfinale ein Glanzlicht im Balladenallerlei waren, so ist es jetzt in diesem Harel Skaat mit seinem Lied „Milim“. Das nach meinem Empfinden Besondere daran: Es hält immer das gesunde Maß trotz all seiner Dramatik und seiner pompösen Instrumentals und schießt nie übers Ziel hinaus wie so manche Frau im Feld. Das macht das Lied wesentlich intensiver und damit zu einer meiner Lieblingsballaden in diesem Halbfinale. Das Finale ist also auch hier Pflicht.
Hm, so gesehen wären jetzt nach drei Titeln schon drei meiner Finaltickets weg. :-) Der Rest muss sich also ranhalten.
4. DÄNEMARK - Chanée & N'evergreen "In a moment like this“
Mit solch einem Teilnehmerfeld läuft dieser Song Gefahr, einfach wegen seiner Glätte unterzugehen. Musikalisch gibt es so gut wie keinen überraschenden Ausschlag nach oben und vor allem der Auftritt des Duos ist noch sehr heterogen. Kurz gesagt: Da fühl ich nichts, wenn ich das sehe oder höre. Vermissen würde man also im Finale nichts, wenn man das nicht weiterwählt. Aber es ist mir auch schon häufiger passiert, dass mir etwas im Vorfeld gar nicht gefallen hat und ich beim Contest selbst positiv überrascht wurde.
5. SCHWEIZ - Michael von der Heide "Il Pleut de L'Or"
Siehe Dänemark :-), nur mit dem Unterschied, dass da Hopfen und Malz schon jetzt völlig verloren sind. Langweilisch bleibt langweilisch, sowohl in Sachen Komposition als auch in Sachen Gesang. Da hilft es auch nicht, das Gesäusel auf Französisch vorzutragen. Aber vielleicht hat sich Herr von der Heide etwas ganz Spektakuläres einfallen lassen, um das in Oslo irgendwie noch aufzupeppen. Warten wir's ab.
6. SCHWEDEN - Anna Berghendahl "This is my life"
Die Schweden haben scheinbar aus den letzten beiden Jahren gelernt und sich wie manch anderer von irgendwelchen überkünstelten Performances abgewendet und sich auf die Musik konzentriert. Jetzt präsentieren sie dieses Jahr im Halbfinale das absolute Gegenteil; eine reizende unaufgeregte Popballade, die sofort zu Herzen geht, was auch der besonderen Stimme von Anna Bergendahl zu verdanken ist. Bitte, schickt mehr solche Lieder zum Contest, denn dann können wir vielleicht irgendwann mal wieder tatsächlich nur über die Musik diskutieren und müssen nicht ständig die Showtauglichkeit der Beiträge im Auge behalten. Und bitte, schickt diese Frau ins Finale!
7. ASERBAIDSCHAN - Safura "Drip Drop"
Safura zeigt sehr beeindruckend, dass auch die Osteuropäer inzwischen verstanden haben, dass Show nicht alles ist und dass sie manchmal Fehl am Platz sein kann. „Drip Drop“ kommt ganz ohne jeglichen performativen Schnickschnack aus und weiß trotzdem zu überzeugen. Es ist eine moderne zeitgemäße Popballade, die auf jeden Fall auch Charttauglichkeit hätte. Dass sie sich daher im Dunstkreis der potentiellen Siegertitel befindet (von einem Ausscheiden im Halbfinale wird gar nicht geredet), kann ich durchaus verstehen. Für einen Sieg finde ich persönlich aber nicht das gewisse Etwas in ihrem Song. Andere Balladen sind da weiter oben in meiner Rangliste. Aber mit Prognosen auf den Sieg tue ich mich dieses Jahr ohnehin schwer.
8. UKRAINE - Alyosha "Sweet people"
Hm... die erste Auszeichnung hat die Ukraine von mir bereits bekommen, nämlich für den chaotischsten Vorentscheid aller Zeiten und für sein Musterbeispiel osteuropäischer Medienpolitik.
[Zur Erklärung: Der vom beteiligten Sender NTU ausgewählte Sänger Vasyl Lazarovych wurde vom neuen Programmchef, der nach der Präsidentschaftswahl eingesetzt wurde, abgesägt, weil er seine Nominierung zu "undemokratisch" fand *hüstel*. Problem: Das fand genau vier Tage vor dem offiziellen "Teilnahmeschluss" statt. Nun wurde innerhalb von 48 Stunden ein demokratischer Vorentscheid mit 20 (!!!) Teilnehmern auf die Beine gestellt, aus dem Alyosha als Siegerin hervorging (und Vasyl nur Zehnter wurde). Alles gut, dachte man, aaaaaber wie man 24 Stunden später herausgefunden hat, war Alyoshas Song ein Plagiat. Daher musste man für die gute Frau spontan noch eine neue Nummer zusammenkomponieren, um eine ernsthafte Strafe oder den Ausschluss zu verhindern. Kurzum: "Sweet people" ist das Substrat des puren Chaos.]
Wenn es nach mir ginge, müsste die Ukraine alleine wegen dieser ungalanten Geschichte im Halbfinale ausscheiden. Andererseits kann Alyosha am allerwenigsten dafür, und ganz ehrlich: eine Qualitätssteigerung hat durch die demokratische Wahl nicht stattgefunden. Und Vasyls Ballade „I love you“ war schon eher „Buah!“ als „Hu!“. "Sweet people" merkt man wirklich seinen Werkstattcharakter an. Uninspiriert, unkontrolliert und nicht wirklich packend, egal wie gut Alyosha die Tonleitern rauf- und runtersingen kann. Seien wir also froh, dass zumindest dieses Jahr keine akute Gewinngefahr durch die Ukrainer besteht.
9. NIEDERLANDE - Sieneke "Ik ben verliefd"
Wer das USFO-Finale gesehen hat, kennt sie bereits, die schönste Lautkombination dieses Contests: Shalali, Shalala, Shalali, Shalala. :-) Zugegeben, bei den Holländern bin ich etwas voreingenommen, weil mir das Land so sympathisch ist, aber ich fürchte, so reizend der Refrain auch ist, er macht den Beitrag von Sieneke nicht besser. Oder um es positiv auszudrücken: Er fällt, genauso wie das Lied der Toppers im letzten Jahr, in die Kategorie „Missverstandenes Werk“. Im Moskau hat einfach keiner die Ironie beim Auftritt der Toppers verstanden, sondern nur den Trash gesehen. Und da so trashaffine Leute wie ich scheinbar doch beim Contest in der Minderheit sind, wird es wohl dieses Jahr ebenfalls nichts mit dem Finale. Jammer.
10. RUMÄNIEN - Paula Seling & Ovi "Playing with fire"
Alle Achtung. Die Rumänen hauen mit „Playing with fire“ ein echtes Pfund in die Waagschale, eines, bei dem man nie wissen kann, ob es nun zu schrill oder genau die richtige Schrillheit hat für eine gute Platzierung. Ich würde ihm auf jeden Fall das richtige Maß an Schrillheit attestieren, womit das Duo nicht nur ein sicherer Aspirant fürs Finale ist, sondern auch unter Umständen ein potentieller Top10-Titel. Das Lied und die Performance bieten jedenfalls genug Gründe dafür.
11. SLOWENIEN - Ansambel Zlindra & Kalamari "Narodnozabravni Rock"
Puh, allein den Titel zu schreiben, macht schon Mühe... erster Minuspunkt. Um die restlichen Minuspunkte kümmert sich das Lied selbst. Es hört sich an, als hätte man Silbermond gezwungen, zusammen mit den Kastelruther Spatzen eine Platte aufzunehmen, quasi wie „Walk this way“ mit Volksmusik und in schlecht. Von der eben beschriebenen Schrillheit ist hier genau das Gegenteil vorhanden, sprich zu viel. Aber auch das ist der Contest und genau wegen solcher Lieder danke ich der EBU für die Einführung der Halbfinals. Dadurch nämlich muss der Löwenanteil des Publikums diesen Rotz nicht am Samstag Abend ertragen.
12. IRLAND - Niamh Kavanagh "It's for you"
Hierzu fällt mir immer wieder ein Wort ein: Fallhöhe. So gerne ich diese nordisch-keltischen Folkloretöne höre, aber ähnlich wie schon Charlotte Perelli, geborene Nilsson, vor zwei Jahren kann Niamh Kavanagh als ehemalige Gewinnerin in Oslo eigentlich nur verlieren. Und sagen wir mal so: ihre Ballade macht es ihr nicht einfacher. Sie ist zwar solide und klingt gut im Ohr, aber auch sie berührt mich nicht wirklich, und das ist gerade bei solchen Liedern ein Todesurteil. Aber sie soll ja eine grandiose Live-Qualität haben, daher werfe ich bei ihr noch nicht die Flinte ins Korn.
13. BULGARIEN - Miro "Angel si ti"
Ja, es gibt ihn tatsächlich noch, den guten Eurodance, für die wir diesen Contest ganz besonders lieben. :-) Dieses Jahr legt Bulgarien als einer der wenigen eine solche Nummer aufs Parkett, die sich ähnlich wie Holland vor allem durch eine markante Lautkombination hervortut. Nur wird bei Miro nicht geshalaliet, sondern viel geoht und gehuht, ein bisschen zu inflationär für meinen Geschmack. Also nichts gegen solche eingängigen Liedelemente, aber zu viel davon ist auch nicht gut. Es wird daher vermutlich eher schwierig für den lieben Miro, Jury und Publikum zu überzeugen.
14. ZYPERN - Jon Lilygreen & The Islanders "Life would be better in spring"
Der junge Mann Jon Lilygreen, der, wie schon der Name verrät, für Zypern antritt, präsentiert ein Lied, das stilistisch die optimale Wahl für einen Christian Durstewitz gewesen wäre, wenn er denn ins USFO-Finale gekommen wäre… Eine wunderbare Gitarrenballade, die völlig unaufgeregt seinen Zauber entfaltet und wirklich musikalisch überzeugt, so wie man sich seine Finalteilnehmer wünscht. Gut, dass er nicht im gleichen Halbfinale wie Tom Dice singt, denn zwei Männer mit Gitarren würde das Publikum wohl überfordern und dafür sorgen, dass einer den kürzeren zieht. So können wir hoffen, dass wir am Samstag nicht nur Belgien, sondern auch Zypern hören werden, notfalls mit Hilfe der Jurypunkte.
15. KROATIEN - Feminnem "Lako je sve"
Das Frauentrio ist in ESC-Kreisen nicht unbekannt, denn es trat vor ein paar Jahren schon mal für Bosnien an. Der Erfolg damals war zwar eher mittelmäßig, aber ganz ehrlich: Bosnien ist dennoch ganz schön blöd, dass sie sich die drei Mädels durch die Lappen haben gehen lassen. Deren Ballade taugt hundert Mal mehr als dieser Pseudo-Rock, den Vukasin Brajic verzapft. Ob „Lako je sve“ allerdings in dem sehr balladenlastigen Teilnehmerfeld für Kroatien genug herausstechen kann, ist schwierig zu beurteilen. Die Schmusekonkurrenz ist wirklich hart in diesem Halbfinale. Ausschließen kann man einen zweiten Auftritt allerdings nicht.
16. GEORGIEN - Sofia Nizharadze "Shine"
Ein weiterer Vertreter der eben erwähnten Schmusekonkurrenz, und genauso wie Kroatien eher ein Wackelkandidat. Das Lied „Shine“ an sich ist eine vollkommen runde Ballade, an der man eigentlich nichts aussetzen kann. Da haben die kräftigen Passagen die Power, die es braucht, und die ruhigen Passagen diese Zerbrechlichkeit, die man heraushören muss. Nur am Ende ist es leider gesanglich ein bisschen over-the-top, aber diese Krankheit ist symptomatisch für viele Song Contest-Balladen. Unter anderen Umständen wäre es also ohne Frage ein sicheres Ticket für Samstagabend. Bei dieser Konkurrenz allerdings wird alles am eigentlichen Auftritt hängen. Ein Fehler und das Finale ist vergeben.
17. TÜRKEI - maNga "We could be the same"
Diese Türken muss man ja inzwischen immer auf der Rechnung haben und das nicht nur wegen ihrer geschickten Emigrantenverteilung in ganz Europa. :-) Ein Grund dafür ist auch unter anderem der regelmäßige Stilwechsel der Beiträge, etwas, was zum Beispiel Griechenland seit seinem Sieg vor sechs Jahren nicht wirklich hinbekommt. Das eine Jahr gibt es typischen Türk-Pop, das nächste Jahr eine eher nicht-arabeske Nummer. Das sorgt für Frische und dadurch für den regelmäßigen Erfolg. Gemäß diesem Turnus hören wir daher in Oslo von maNga ganz straighten Pop-Rock ohne eine Spur von Orient. Wahrlich, im Vergleich zu den peinlichen Rock-Nummern aus dem Balkan ist das ein echter Lichtblick, aber große Siegchancen sehe ich bei dem Lied nicht. Dafür ist es wieder etwas zu straight.
Aber wie ich schon gesagt habe, den Sieger zu orakeln ist dieses Jahr wahrlich nicht einfach. Bevor ich mich da zu einer endgültigen Prognose entschließe, werden noch die Großen Vier und Gastgeber Norwegen ausgiebig analysiert. Mehr dazu beim nächsten Mal.