Samstag, 28. Mai 2011

Jury versus Publikum

Es ist interessant und amüsant zugleich. 2009 und 2010 hat es noch kaum einen Menschen richtig gestört, was die Jurys und das Publikum unabhängig voneinander gedacht haben. Der Sieger war ja bei beiden klar, da muss man also nicht größer darüber nachdenken. Jetzt, da das mal nicht der Fall ist - ein Szenario, mit dem man anscheinend nie gerechnet hätte - bricht gleich wieder die große Debatte aus. Und einige unsägliche Leute finden nun auch in Sachen ESC den Wutbürger in sich und rufen: JURYS ABSCHAFFEN! SOFORT!

(Zur Erklärung: Beim reinen Televoting hätte Aserbaidschan knapp vor Schweden und Griechenland gewonnen. Beim Juryvoting waren sie nur Zweiter, mit einem deutlichen Abstand hinter Italien, das durch den 11. (!) Platz im Televoting auf den zweiten Platz gelandet ist.)


Ergebnisse im Finale

Jury- und Televotinergebnisse im Finale
PlatzLandGesamtergebnisJuryTelevoting
1Aserbaidschan221182223
2Italien18925199
3Schweden185106221
4Ukraine159117168
5Dänemark13416861
6Bosnien-Herzegowina12590151
7Griechenland12084176
8Irland119119101
9Georgien11079138
10Deutschland107104113
11Großbritannien10057166
12Moldau978298
13Slowenien9616039
14Serbien8511189
15Frankreich829076
16Russland7725138
17Rumänien778679
18Österreich6414525
19Litauen636655
20Island617260
21Finnland577547
22Ungarn536064
23Spanien503873
24Estland447432
25Schweiz19532

© www.eurovision.de

Faszinierend, kann ich da nur sagen. Faszinierend vor allem deswegen, weil gerade wir dieses Jahr eigentlich keinerlei Grund zum Meckern haben. Lena befand sich bei beiden Seiten auf Platz 9, fand also gleichermaßen Zuspruch bei Jury und Televotern und hat nun keinerlei Benachteiligung erfahren. Darüber freut sich irgendwie keiner. Nein, stattdessen wird sich lieber aufgeregt, wie es der Deutsche halt immer macht.

Worüber genau wird sich aber hier eigentlich aufgeregt? Dass statt Aserbaidschan fast Italien gewonnen hätte? OH MEIN GOTT! Das wäre ja grauenvoll! Eine kompositorisch anspruchsvolle Swingnummer darf doch keinen Song Contest gewinnen. Wo kommen wir denn da hin, wenn plötzlich die Qualität der Musik wieder entscheidend wäre? Dann lieber die pseudoromantische Durchschnittsschnulze mit dem schönen Funkenregen am Ende...

Ok, aber jetzt mal im Ernst: Es gibt zugegebenermaßen dieses Jahr einige Fälle, bei denen die Einschätzung von Jury und Televoting extrem auseinanderdriften. Dänemark zum Beispiel; Dritter bei der Jury, 18. beim Televoting. Oder der besagte Act aus Italien, der zur Überraschung aller aufs Treppchen gekommen ist. Oder andersrum Russland, das sich mit Georgien den 7. Platz beim Televoting geteilt hätte, aber bei der Jury als Letzter komplett durchgefallen ist.

Wer sich darüber jetzt aufregt, dem kann ich nur sagen: HALLO, genau dafür wurden die Jurys vor zwei Jahren wieder eingeführt. Dafür, dass die von Diaspora, Nachbarschaftsklüngel und Effekthascherei eingefärbten Televotings ein Gegengewicht bekommen, das auch den Liedern eine Chance gibt, die wirklich auf musikalischer Ebene überzeugen wollen. Und es ist wahrlich nicht das erste Mal, das solche Extremfälle, sowohl positiv wie auch negativ, auftreten.
Beispiele? Gerne. Letztes Jahr in Oslo, Tom Dice für Belgien. Eine richtig sympathische gediegene Popnummer, die gänzlich ohne Humtata ausgekommen ist. Televoting: Ein unsäglicher 14. Platz; beim Juryvoting direkt hinter Lena auf Platz 2. Machte in der Summe einen 6. Platz, der ja wohl in den Augen aller verdient war. Oder Patricia Kaas für Frankreich in Moskau. Für mich der geilste Auftritt des ganzen Abends. Eine Frau, die während ihres tollen Chansons diese gigantische Bühne mit nichts weiter gefüllt hat als ihrer Stimme und ihrer Präsenz. Beim reinen Televoting: 17. (!!!!!) Platz; bei der Jury: 4. Platz. Hat am Ende zumindest für Platz 8 gesorgt, was für mich persönlich das Mindeste war.
Es gibt auch genug Beispiele für den umgekehrten Fall, dass ein beim Publikum populärer Song durch das Juryergebnis nach hinten gewandert ist. Bei denen hat man es aber meistens nicht bedauert, da es in erster Linie Länder betraf, bei denen das Blockvoting-Argument gezogen wird (Russland, Griechenland, Serbien, in abgeschwächter Form bei Aserbaidschan und der Türkei).
Und mal ganz unter uns: Wenn am Ende Aserbaidschan vor Schweden und Griechenland (!!!) gewonnen hätte und Russland noch vor Lena gelandet wäre, hätten wir uns da nicht viel mehr aufgeregt? Hätten dann nicht wieder alle geschrien: Ach, diese Griechen, diese ganzen Migrationswähler! Und der Russe schon wieder mit seinen blöden GUS-Klüngel. Dann wären wir wieder bei den ganzen alten Klischees, die man 2009 durch diesen Modus endlich zum Schweigen bringen wollte.

Für mich haben daher die Jurys weiterhin ihre volle Daseinsberechtigung, ganz unabhängig davon, ob ich ihre Geschmäcker zu 100% teile. Ich freue mich, dass durch sie Dänemark in den Top 5 gelandet ist, dass zumindest Nadine Beiler nicht komplett ignoriert wurde im Finale (von der Schweiz würde ich liebend gern das Gleiche behaupten) und JA, dass Griechenland durch sie NUR auf Platz 7 gelandet ist, was meiner Meinung nach immer noch 18 Plätze zu hoch ist. Weiter so, EBU!

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