Freitag, 3. Juni 2005

Telenovelas, wie sie wirklich sind


Ramon und Conchita stehen am Strand vor einem Sonnenuntergang, der wie gemalt aussieht. Der Wind weht Conchita durch ihr langes schwarzes Haar, verdeckt ihr wunderschönes Gesicht, auf dem sich Tränen ihren Weg über die Wangen bahnen. Ramon steht nur da und sieht ihr tief in die Augen.


"Ramon, bitte sieh mich nicht so an. Du weißt, ich bin eine verheiratete Frau und mein Ehemann schuftet jeden Tag hart, um mir und dem Kind unter meinem Herzen ein schönes Leben zu ermöglichen. Ich kann das alles nicht nur wegen einer einzigen gemeinsamen Nacht in Episode 1 hinschmeißen und mit dir in ein neues, kurzes, aber intensives, gemeinsames Leben gehen. Das bin ich meinem Mann Carlos schuldig."


Ramon umfasst sanft ihre Schultern. Sein schwarzer Schnurrbart kräuselt sich in den aufbrausenden Böen. "Conchita, ich weiß, ich bin kein armer Mann. Ich bin der Chef einer Textilfabrik eines namhaften Herstellers (Zoom auf sein NIKE-T-Shirt) und verdiene jeden Tag mehr als dein Mann in seinem ganzen erbärmlichen Arbeiterleben, aber glaube mir, das sind alles nur Oberflächlichkeiten. Hinter der Fassade schlummert ein einsamer, vor Potenz strotzender Mann, der nichts mehr begehrt als eine geile arme Ische, die er mit seinem Reichtum so lange einlullen kann, bis sie ihm absolut hörig ist und im Bett keine Tabus mehr kennt." Conchita wendet ihr Gesicht vor lauter Rührung von ihm ab, Ramon redet trotzdem weiter.


"Du bist genau diese arme Ische, die ich mein ganzes Leben lang gesucht habe. Du bist die Erste, die so blöd war, dass sie auf meine Tricks hereingefallen ist, und seit dieser Nacht in Episode 1 zerreißt es mich Folge für Folge aufs Neue, dass unsere Autoren uns nicht zusammenführen wollen. Stattdessen dichten sie dir einen impotenten Ehemann, ein uneheliches Kind und einen Lottogewinn an, der dich in die Spielsucht trieb. Und mir, mir schreiben sie vier geldgierige Schlampen, ein politisches Attentat und einen Autounfall vor, bei dem ich fast eines meiner Eier verloren hätte."


Conchita ergreift sein Gesicht mit beiden Händen. "Verzage nicht, Ramon, deine und meine Leidenszeit wird heute endlich ein Ende haben."
"Warum, Conchita?"
"Weil das heute die 225. und damit letzte Episode ist. Und da gibt es in einer Telenovela wie dieser hier immer ein Happy End. Sonst wäre es keine Telenovela."
"Oh, Conchita, bin ich glücklich, dass das die letzte Episode ist! Jetzt kann ich endlich wieder richtig schauspielern."
"Ich auch, Ramon, ich auch."


Voll überschäumender Freude fallen sich Ramon und Conchita in die Arme und küssen sich, bis bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt...


ENDE

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